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WEG DES UNGEHORSAMS
Rechtmäßige Widerständler sind durch den friedlichen Charakter ihrer Proteste gekennzeichnet, die oft institutionalisierte Widerstandswege nutzen. Im Gegensatz zu konventionellen Widerständlern, die verdeckte oder stille Mittel der Sabotage gegen den Staat einsetzen können, ersuchen rechtmäßige Widerständler aktiv die Aufmerksamkeit der Eliten, und ihre Proteste sind öffentlich und offen.
Mit Akten zivilen Ungehorsams beabsichtigt der Ungehorsame, auf einzelne Gesetze oder Regeln hinzuweisen, die er uneigennützig als ungerecht empfindet. Mit dieser Art des Hinweises will er auf eine Veränderung hinwirken. Ziviler Ungehorsam zeigt sich dann entweder in einer durch das Gewissen gebotenen Verletzung genau der Gesetze oder Regeln, die als ungerecht bewertet werden (unmittelbarer ziviler Ungehorsam), oder als Verletzung gerechter Gesetze, um auf die Ungerechtigkeit anderer öffentlich und symbolisch hinzuweisen (mittelbarer ziviler Ungehorsam).
Ziviler Ungehorsam als solcher ist im deutschen Recht weder eine Ordnungswidrigkeit noch ein Straftatbestand. Er kann sich allerdings in Handlungen äußern, die Gesetze, Verordnungen oder Verfügungen verletzen. Damit ist nicht der zivile Ungehorsam sanktionierbar, sondern jeweils die konkrete Rechtsverletzung (Hausfriedensbruch, Bedrohung, Sachbeschädigung, Störungen gerichtlicher Abläufe etc.).
Anmerkungen zur juristischen Bewertung:
Der zivile Ungehorsam steht als politisches Instrument zwischen dem positiven Recht, das verletzt wird, und dem Ziel, Gerechtigkeitsprinzipien für das Gemeinwesen durchzusetzen. Für den Fall einer unmittelbaren Verletzung eines Gesetzes, auf dessen Ungerechtigkeit mittels zivilem Ungehorsam hingewiesen werden soll, bietet die durch den Rechtsphilosophen Gustav Radbruch formulierte Radbruchsche Formel der Rechtsprechung unter bestimmten eng gefassten Bedingungen die Möglichkeit die Motivation der Rechtsverletzung zu berücksichtigen. Damit bietet sie indirekt eine Rechtfertigung für die Ausübung unmittelbaren zivilen Ungehorsams.
Die Radbruchsche Formel ist eine erstmals 1946 formulierte These des deutschen Rechtsphilosophen Gustav Radbruch (1878–1949). Dieser These zufolge hat sich ein Richter bei einem Konflikt zwischen dem positiven (gesetzten) Recht und der Gerechtigkeit immer dann – und nur dann – gegen das Gesetz und stattdessen für die materielle Gerechtigkeit zu entscheiden, wenn das fragliche Gesetz als „unerträglich ungerecht“ anzusehen ist oder das Gesetz die im Begriff des Rechts grundsätzlich angelegte Gleichheit aller Menschen aus Sicht des Interpreten „bewußt verleugnet“.
Da die Radbruchsche Formel mehrfach von der bundesdeutschen höchstrichterlichen Rechtsprechung angewandt wurde, gilt Radbruchs „Aufsatz Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht", der diese These erstmals enthielt, manchen Autoren als die einflußreichste rechtsphilosophische Schrift des 20. Jahrhunderts. Die Frage, ob der rechtspositivistische Rechtsbegriff, der allein auf die ordnungsgemäße Setzung und die soziale Wirksamkeit einer Norm abstellt, im Sinne der Radbruch’schen Formel modifiziert werden sollte, bildet eine grundlegende Kontroverse der gegenwärtigen rechtsphilosophischen Diskussion in Deutschland.
„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges‘ Recht, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinne nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen.“
Ganz ähnlich legte Radbruch diese Position auch in der posthum veröffentlichten Vorlesungsnachschrift „Vorschule der Rechtsphilosophie" dar: „Wo die Ungerechtigkeit des positiven Rechts ein solches Maß erreiche, daß die durch dieses Gesetz garantierte Rechtssicherheit gegenüber seiner Ungerechtigkeit überhaupt nicht mehr ins Gewicht falle, trete dieses „unrichtige“ Recht gegenüber der Gerechtigkeit zurück.“ An anderer Stelle heißt es:
„Wo also […] Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, können die so geschaffenen Anordnungen nur Machtsprüche sein, niemals Rechtssätze […]; so ist das Gesetz, das gewissen Menschen die Menschenrechte verweigert, kein Rechtssatz. Hier ist also eine scharfe Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht gegeben, während wie oben gezeigt wurde, die Grenze zwischen gesetzlichem Unrecht und geltendem Recht nur eine Maßgrenze ist […].“
(aus Wikipedia)
Wer sich nicht bewegt,
spürt seine Fesseln nicht.
Annemarie Selinko