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ANARCHIE
Die Liste bekannter (und vergessener) Anarchisten in Kunst, Wissenschaften und Philosophie durch die Jahrhunderte ist lang und bunt. Einige Namen seien hier erwähnt:
Michail Bakunin, Filippo Buonarroti, Albert Camus, Allen Ginsberg, William Godwin, Peter Kropotkin, Dieter Kunzelmann, George Orwell, Pierre-Joseph Proudhon, Rio Reiser, Sacco und Vanzetti, Rudolf Steiner, Fritz Teufel, Lew Nikolajewitsch Tolstoi, B. Traven, Robert Anton Wilson, David Graeber ( verstorben ), ....
Wir haben doch im Laufe der Geschichte schon viel ausprobiert und ertragen:
Monarchie, Diktatur, Demokratie, Kommunismus, Despotismus, Militärdiktatur, Oligarchie, Feudalismus, Aristokratie, Kleptokratie, Bürokratie, Plutokratie, Theokratie, Technokratie... Es ist an der Zeit, zu uns zu kommen und zu stehen.
Erich Mühsam im Kain-Kalender für das Jahr 1912, Seite 21:
Anarchie bedeutet Herrschaftslosigkeit. Wer den Begriff mit keinem Gedanken verbinden kann, ehe er ihn nicht zur Zügellosigkeit umgedeutet hat, beweist damit, daß er mit den Empfindungsnerven eines Pferdes ausgerüstet ist. Anarchie ist Freiheit von Zwang, Gewalt, Knechtung, Gesetz, Zentralisation, Staat. Die anarchische Gesellschaft setzt an deren Stelle: Freiwilligkeit, Verständigung, Vertrag, Konvention, Bündnis, Volk.
Aber die Menschen verlangen nach Herrschaft, weil sie in sich selbst keine Beherrschtheit haben. Sie küssen die Talare der Priester und die Stiefel der Fürsten, weil sie keine Selbstachtung haben und ihren Verehrungssinn nach außen produzieren müssen. Sie schreien nach Polizei, weil sie allein sich nicht schützen können gegen die Bestialität ihrer Instinkte. Wo ihr Zusammenleben gemeinsame Entschlüsse verlangt, da lassen sie sich vertreten (die deutsche Sprache ist sehr feinfühlig), weil sie den eigenen Entschüssen zu trauen nicht den Mut haben.
Das politische Leben der zivilisierten Völker erschöpft sich - um den Pferdevergleich wieder aufzunehmen - im Ersinnen immer vollkommenerer Zügel, Sättel, Deichsel, Kandaren und Peitschen. Nur darin unterscheidet sich der arbeitende Mensch vom arbeitenden Pferd, daß er selbst hilft, verbesserte Systeme seiner Fesselung zu erfinden und sich anzulegen. Doch gleichen sich beide im Zutrauen zu ihrem starken Eisenbeschlag und in der Verhinderung seiner Anwendung durch Scheuklappen.
Wissenschaftliche Läuterung hat die arbeitenden Menschen darüber aufgeklärt, daß die kapitalistische Verfassung sie des Ertrages ihrer Arbeit beraubt. Sie werden ausgebeutet und wissen das. Sie kennen auch den Weg, der zum Sozialismus leitet: die Überführung des Landes mithin aller Arbeitsmittel aus den Händen Privilegierter in den Besitz des Volkes. Sie kennen den Weg seit einem halben Jahrhundert, aber sie haben ihn bis heute mit keinem Fuße betreten. Das Mittel zur Abänderung als schlecht erkannter Zustände heißt immer Aktion.
Aber die Menschen unserer Zeit sind aktionsfaul. Um nichts tun zu müssen, haben sie die Theorie aufgestellt, daß sich die Geschichte nach materialistischen Notwendigkeiten entwickelt. Die Zeit funktioniert automatisch; die arbeitenden Menschen aber warten ab, bis es der Zeit gefällig sein wird. Inzwischen flicken und putzen sie ihr Geschirr, schimpfen und wählen. Diese Interimsbeschäftigung ist ihnen zur Gewohnheit geworden, zum Bedürfnis, zum Lebenszweck. daß sie auf etwas warten, haben sie darüber vergessen. Weh dem, der sie erinnert!...
Anarchie ist die Gesellschaft brüderlicher Menschen, deren Wirtschaftsbund Sozialismus heißt. Brüderliche Menschen gibt es. Wo sie beieinander sind, lebt Anarchie; denn einer Herrschaft bedürfen sie nicht. Was ihnen zu schaffen bleibt, ist Sozialismus. Die Aktion, die zum Sozialismus führt, heißt Arbeit. Wer nicht mitschaffen will, in brüderlicher Gemeinschaft sozialistische Arbeit zu verrichten, wer abwarten will, wie sich die Verhältnisse ohne sein Zutun entwickeln, der flicke und putze immerhin sein Geschirr, der schimpfe und wähle. Aber er nenne sich nicht Sozialist. Vor allem urteile er nicht über Anarchie. Denn die ist eine Angelegenheit der Herzen, und davon versteht er nichts.
Die Staaten vereinigen die Menschen, damit durch diese und in dieser Vereinigung jeder einzelne Mensch seinen Teil von Glückseligkeit desto besser und sichrer genießen könne. - Das Totale der einzelnen Glückseligkeiten aller Glieder ist die Glückseligkeit des Staates. Außer dieser gibt es gar keine. Jede andere Glückseligkeit des Staates, bei welcher auch noch so wenig einzelne Glieder leiden und leiden müssen, ist Bemäntelung der Tyrannei.
Gotthold Ephraim Lessing