Musikalisches Erbe

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MUSIKALISCHES ERBE

Als Beispiel kann man unser musikalisches Erbe heranziehen, zu dem ich ein zwiespältiges Verhältnis habe. Meines Wissens nach war früher der Kammerton A der Mondton (im synodischen Umlauf in der höchsten Oktave mit 420,84 Hz, also knapp 421 Hertz). Da Streichinstrumente um so lauter klingen, je höher sie gestimmt werden, wurde der Kammerton A mit der Zeit immer höher. Heute ist der Kammerton A1 bei offiziell 440 Hz (Standard ISO 16), also fast einen Halbton über dem Mondton, es werden aber auch höhere Frequenzen verwendet.

Dieser Unterschied mag unbedeutend erscheinen, hat aber einen bedeutsamen Effekt auf die emotionale Wahrnehmung dieser alten Musik. Diese Erhöhung entfremdet uns davon. Genauso wichtig oder noch wichtiger ist auch das schneller gewordene Tempo. Früher war ein „Andante“ („gehend“) viel langsamer als unser Gehen in der heutigen schnellen Zeit.

Ein Schlüsselerlebnis zum Thema Tempo von klassischer Musik hatte ich, als ein früherer Mitmusiker ein Klavierstück von Beethoven mit dem angegebenen Tempo in sein Keyboard eingegeben hat, da er es nicht schaffte, dieses Stück zu spielen. Seine Programmierung klang für mich so: im ersten Teil eine Abfolge von nichtssagenden Kadenzen, dann einen zweiten Teil, den man mit „Frank Zappa hat einen epileptischen Anfall“ beschreiben könnte.

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Nachdem ich ihm sagte, ich glaube daß das Tempo zu schnell ist und ihm empfahl, dieses zu halbieren (was definitiv zu langsam ist), klang das Klavierstück nun plötzlich so für mich: im ersten Teil betritt der König würdevoll den festlich geschmückten Ballsaal. Im zweiten Teil ergötzt sich die Festgesellschaft an einem illustren Tanz zu dem koketten Spiel des Orchesters.

Wenn man die Wahrnehmungsverschiebungen durch die zu hohe und schnelle Darbietung der Musik betrachtet, ist das reiche musikalische Erbe in seiner Ursprünglichkeit nicht wirklich wahrnehmbar und zu genießen. Es geht nicht um eine Formel 1 - Performance von vermeintlich großen musikalischen Egos, sondern um das ursprüngliche Erleben von wahrhaftiger Musik. Wer interessiert sich für so etwas? Wem bedeutet es noch etwas?

Die Jugend kann nicht mehr auf die Erwachsenen hören.
Dazu ist ihre Musik zu laut.
  Oliver Hassencamp

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